Berlin, synthetische Musik und ich
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Berlin, synthetische Musik und ich
aus: Berlin: Begegnungen und Begebenheiten von Anja Polaszewski, die immernoch ich bin. ;-))
11. Dezember
Feierabend. Ich bin offline. Endlich! Als ich aus der Tür zwischen Verpflichtung als Journalistin und Freizeit trete, erwartet mich eine gespenstisch anmutende, neblige Winterstimmung.
Nur ein paar Meter trennen mich vom U-Bahnhof Potsdamer Platz inmitten der verkehrsumtosten Weltstadt Berlin. Ich haste die Treppen hinunter zur U2 in Richtung Pankow, den letzten freien Stunden des Tages entgegen. Sonderzug nach Pankow, denke ich und schmunzele amüsiert. Udo Lindenberg wäre sicher hocherfreut, wenn er wüsste, dass ich gerade an ihn denke.
Auf der Anzeigentafel blinkt es langsam und in gleichmäßigen Abständen. Ein paar Augenblicke später nähert sich ruckelnd die schmutzig-gelbe U-Bahn. Kaum zehn Sekunden habe ich jetzt Zeit, um mich zwischen „Einsteigen …“ und „Zurückbleiben … bitte!“ zu entscheiden. Bevor ich meinen Fuß über die Lücke zwischen Bahnsteigkante und Zug setze, halte ich inne und widerstehe dem Impuls einzusteigen. Soll ich sie wirklich nehmen, die zu dieser Zeit vollgestopfte Untergrundbahn und mich mit den in den Feierabend strömenden Menschen, Kinderwagen und Gerüchen vereinen? Mich erneut der alltäglichen Routine, der immer gleichen mechanischen Eile unterwerfen? Viel zu wenig sieht man dort unten während der Fahrt durch den dunklen Schacht, zu wenig spürt man von der pulsierenden Hauptstadt. Ich trete zurück, die Türen schließen sich in eiliger und dennoch konsequenter Manier. Den Bus nehmen? Haltestelle um Haltestelle würde er sich durch den zähflüssigen Feierabendverkehr drängeln. Bei einem Blick aus dem Fenster würde ich nicht viel mehr sehen als mich selbst und ein paar andere sich spiegelnde Menschen auf der gegenüberliegenden Seite des Busses. Nein, auch das ist keine Alternative. Mein Herz braucht jetzt Luft. Und Raum für seine wache Energie.
Ich beschließe, nach Hause zu laufen. Ein großer Kaffee soll mein Weggefährte sein. Ich gebe mich einmal mehr der Illusion hin, das koffeinhaltige Getränk könne bei der Verdauung dienlich sein und denke an das große Stück Käsekuchen vom Spätnachmittag. Entgegen meiner sonstigen Gewohnheiten mache ich einen Abstecher zur Starbucks-Filiale in den Arkaden, wobei das Wort „Filiale“ wohl nicht richtig gewählt ist. Mit einem schiefen Grinsen, das mir bei diesen Gedanken in nur einen statt in beide Mundwinkel rutscht, betrete ich das Coffee House meiner Wahl. Vermutlich aus denselben Gründen wie Tommy Jauds Vollidiot tue ich das äußerst selten: Zu nervenaufreibend, zu teuer, zu aufgesetzt finde ich dieses ganze us-amerikanische Get your individual and fresh flavoured american coffee-Prozedere.
Meine Befürchtungen bewahrheiten sich. Schlimm genug, dass ich mich nicht entscheiden kann zwischen White Caffè Mocha, Tazo Iced Chai Tea Latte, Caramel Macchiato und einem Getränk mit dem noch umständlicheren Namen Caramel Frappuccino Blended Coffee. Es drängt scheinbar auch die Zeit, denn der junge Angestellte mit hektischen Flecken im Gesicht schaut mich bereits genervt fragend und für meine Stimmungslage etwas zu bestimmt an. Er fixiert mich, und ich spüre, wie er es schafft, einen Strom der Eile durch meinen Körper zu jagen. Ich versuche, mich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen, doch langsam sollte ich mich entscheiden.
Der Postpubertäre dringt weiter in meine Psyche vor. Er möchte wissen, was es denn nun für mich sein darf, reckt das neugierige Köpfchen weiter in meine Richtung. Sein Blick brennt sich in meine Netzhäute. Zu allem Überfluss springt mir in diesem Moment auch noch die Phrase Coffee of the Week ins Auge. Als wäre ich nicht schon genug unter Druck. Natürlich könnte ich meinen Ansprechpartner gezielt danach fragen, doch ich entscheide mich geflissentlich dagegen. Ich will doch nur einen Kaffee. Völlig überfordert, doch jetzt ganz sicher über das, was ich will, bestelle ich ziemlich lautstark und mit trotziger Stimme einen „großen Milchkaffee zum Mitnehmen“. Der Angestellte starrt mich verständnislos an. Doch erstaunlich schnell erlangt er seine Fassung wieder: „Also einen Tall Caffè Latte To Go“. Ich nicke ergeben, sage „Von mir aus auch das“ und hoffe, dass das alles bald ein Ende hat. Doch dann stellt er mir plötzlich die Frage nach meinem Vornamen. Ich hätte es wissen müssen, und dennoch bin ich völlig überrumpelt. Beinahe entgleitet mir eine patzige, gezielt ironische Antwort. Doch ich zügele mein Temperament. „Anja“, sage ich ruhig - und ärgere mich sogleich. Sicher wäre es lustiger gewesen, nicht meinen, sondern einen auffälligeren Namen zu wählen. Einen, bei dem sich alle umdrehen, wenn er gerufen wird; „Hillary“ zum Beispiel. Das hätte zudem noch einen aktuellen politischen Zeitbezug. Teuer. Der Preis ist hoch, den ich da für meinen simplen Milchkaffee zahle. Statt in einem hübschen Mug wird er mir in einem unscheinbaren, beigefarbenen Pappbecher kredenzt. Ich reihe mich in die Schlange der Wartenden ein und lasse meinen Blick durch die überfüllte Räumlichkeit schweifen, in der vorwiegend junge Menschen sitzen, stehen oder anderweitig umtriebig sind. Sie diskutieren, gestikulieren, lachen oder beobachten schweigend. Einige scheinen nachzudenken oder auf Godot zu warten, getarnt hinter einer Zeitung im neumodischen To Go-Format. Das heißt hier: kompakt. Dass er (Samuel Becketts Godot) niemals kommen wird, ist ihnen vielleicht schon bewusst. 'Das Leben als Beschäftigungstherapie' schießt es mir derweil in den Sinn. Auch ich denke nach. Darüber, wie lange es wohl noch dauert, bis mein Kaffee zubereitet ist. Ich will hier raus. Da brüllt auch schon die fast vertraute männliche Stimme eher fragend als aufrufend: „Ein Tall Caffè Latte To Go für Anjaaaa?!“ Ich verdrehe die Augen und warte einen Moment, des Spaßes halber. Sicher wird er noch einmal rufen. Er sieht mich - die Stirn in Falten gelegt. Erst, als ich auffällig hineile, um mein Heißgetränk in Empfang zu nehmen, entspannen sich seine Gesichtsmuskeln sichtlich. Nun kann er einen Haken an meinen Namen machen. Ich frage mich, was er darüber denkt, dass die niemals ruhende Konkurrenz über ihre Fastfood-Angebote hinaus jetzt einen vielleicht noch zukunftsweisenderen Kaffeeservice anbietet. An der Börse jedenfalls ist die weltbekannte Schnellrestaurant-Kette einen Schritt weiter. Ich grinse und stelle mir das Fleckengesicht mit entsprechender Dienstkappe vor.
Beim Hinausgehen höre ich eine ältere Dame sagen: „Ich hätte gern ein Stück Schokoladenkuchen.“ Kurze Pause. Und dann eine Nuance wütender: „Ist mir doch egal, wie Sie das hier nennen!“
Ich bin froh, als ich wieder auf die Straße trete, meinen Coffee To Go in der Hand. Raschen Schritts entferne ich mich vom emsig umgarnten, pseudoweihnachtsfreudig angestrahlten Potsdamer Platz. Hier tummeln sich von früh bis spät Geschäftsleute in Spitzenklasseanzügen und edelweiblichen Kostümchen. Ich erreiche die Leipziger Straße, die um diese Tageszeit bis zum Erbrechen mit Autos verstopft ist. Zum Glück habe ich jetzt nur meine Beine und keine Räder, die ich am hupenden Gekröse vorbei schleusen muss. Ich war schlau und habe mir Musik in die Ohren geklemmt - synthetische Musik. Ich grinse, und ich laufe los. Take The Long Way Home. Ich schlendere immer geradeaus, mehrere Minuten lang. Irgendwann biege ich links ab und mache einen Abstecher in die Wilhelmstraße - vorbei am U-Bahnhof Mohrenstraße. Vor der Wende war er eine Art Grenzbahnhof vom Osten zum Westen, jetzt liegt er mitten im Zentrum der wiedervereinten Stadt. Aus einem Supermarkt in der Nähe stürzt ein junger Mann mit dunkelblauer Sporttasche. Bestimmt hat er vor dem Einkaufen noch eine Partie Badminton oder Squash gespielt und wird zu Hause gleich seine Liebste bekochen. Vielleicht ist er aber auch ein typischer Großstadtsingle, und in seiner Tasche befinden sich Dosenravioli.
Automatisch muss ich an heute Morgen denken, als ich beim Fahren mit der Straßenbahn übertriebene Höflichkeit erlebte. Ein Jugendlicher stand mit einer sperrigen Reisetasche im Türbereich und wollte sich wohl seinen Weg nach draußen bahnen. Es wäre ein Leichtes für ihn gewesen, hätte er einfach seine Füße bewegt und sie die Stufen hinab gleiten lassen, doch nein - so tat er nicht. Der Betaschte ließ zunächst einmal alle anderen aus- und einsteigenden Fahrgäste umständlich an sich vorbei passieren. Ein heilloses Durcheinander. Als der junge Mann dann selbst auf den Bahnsteig treten wollte, überlegte er es sich urplötzlich anders und ging wieder zurück in die Straßenbahn. Dabei taschierte er wohl ein halbes Dutzend Leute. Vorwurfsvolle Blicke von allen Seiten. Ein paar Haltestellen weiter - vielleicht drei oder vier - ereignete sich dasselbe, doch diesmal stieg der uneilig Reisende aus. Ich blickte ihm hinterher. Auf der Suche nach einer freien Gehnische in seinem Weg stolperte er beinahe über seine eigenen Füße und entschuldigte sich dabei unzählige Male bei den anderen. Seine Absicht war wohl, niemanden zu behindern. Doch leider erreichte er das Gegenteil. Ein hupendes Auto reißt mich jäh aus meiner erheiternden Erinnerung. Als ich einige Songs später die Friedrichstraße erreiche, biege ich rechts ab und befinde mich wieder auf der Leipziger Straße. Ich lasse die Alexanderstraße, die imposante Karl-Marx-Allee mit den sozialistisch-klassizistischen Wohnblöcken und die unscheinbare Mollstraße hinter mir.
In der Otto-Braun-Straße angekommen laufe ich an nostalgischen Plattenbauten vorbei. Hier glitzert, wohin das Auge blickt, konservativer Weihnachtsschmuck in den trostlosen Fenstern. Eine Deutschlandfahne ist auch dabei.
Ich denke lächelnd an Rügen, an die kleinen und verloren wirkenden Plattenbauten, die man sieht, wenn man von Stralsund in Richtung Ostseebad Sellin fährt. Ich erinnere mich an ein kleines Mädchen zu Beginn des Jahres 1989. Sie ist neun Jahre alt. Ein Onkel von „drüben“ ist zu Besuch. Drüben - das war dort, wo man nicht hin durfte, wenn man in dem Land lebte, in das dieses Mädchen hineingeboren wurde. Gemeinsam macht man eine Fahrt zum Kap Arkona. Es ist windig dort, nein, stürmisch. Das kleine Mädchen ist blass und mager, sie schaut ihren Onkel vertrauensvoll an. Sie weiß von ihm nur, dass er sehr krank ist. Er nimmt sie in die Arme und drückt sie fest an sich. Sie ist glücklich. Ein paar Monate später hätte das Mädchen ihren Onkel dort drüben besuchen können, doch darauf hatte er nicht mehr gewartet. Covenant. VNV Nation. Daft Punk. Die elektronische Musik durchfließt mich. Ich drehe sie lauter und erreiche ein paar Minuten später die Straße, in der ich lebe: die Greifswalder Straße im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg. Mein Kiez. Nach beinahe neun Jahren Leben und Überleben in Berlin kenne ich sie recht gut, diese niemals schlafende, tosende und atemberaubende Spreemetropole. Hier möchte ich sein. Das wird mir einmal mehr bewusst in diesem Moment.
Als ich an dem szenigen Friseurladen vorbeiflaniere, der sich selbstbewusst Locke & Glatze nennt, sehe ich ein rotes, dem jähzornigen Rost anheim gefallenes Fahrrad auf dem Bürgersteig liegen. Es beschreibt in seinem Zerfall eine energische Acht. Ein paar Speichen sind aus den Rädern gebrochen, und es scheint nur noch auf den weiteren Oxidierungsprozess zu warten. Überall in der Stadt vegetieren Fahrradleichen vor sich hin, abgelegt im Gebüsch, angekettet an Ständern, abgelegt vor Universitäten und Bahnhöfen. Verlassen und herren- beziehungsweise damenlos könnten sie jede für sich ihre individuelle und gleichermaßen traurige Geschichte erzählen. Zweiräder werden vor allem gebraucht, um kostengünstig, flexibel und staufrei von einem Ort zum anderen zu gelangen. Dabei vermeidet es jeder pfiffige Berliner oder Wahlberliner, teure oder schicke Fahrräder zu besitzen, da sie oft in den illegalen Besitz anderer gelangen. Und diese wiederum verlieren ihr soeben „erworbenes“ Rad bisweilen an Dritte oder gar an Vierte. Man schabt an Hauswänden vorbei, fällt oder wird angefahren. Irgendwann ist das Velo nur noch ein elendes Häufchen Schrott und wird achtlos in eine Ecke geworfen.
Ich bin fast zu Hause - noch immer synthetische Musik im Ohr, wippenden Schritts gehend, im Takt der Musik, das Haar zerzaust vom winterlichen Wind. Allein mit mir selbst, inmitten flipper Mädchen und Frauen mit langen, bunt gestrickten Schals und lässigen Typen mit unkonventionellen Ripcaps. Einige haben die Hände in den Hosentaschen versteckt und Kopfhörer auf - wie ich. Die Nacht löst den Abend ab. In diesem Moment bin ich glücklich bis über beide Ohren. Ich lebe hier, und das liebe ich.
Ich liebe Berlin.
Gast- Gast
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